Von bunten Tönen und lauten Farben. Die verrückte Welt der Synästhesie - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Public Affairs





 

Chanukka 5785




AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 07.04.2002


Von bunten Tönen und lauten Farben. Die verrückte Welt der Synästhesie
Linda Tidwell

Rund 160 000 Deutsche erleben die Welt im Sinnesrausch. Sie empfinden Musik in bunten Farben oder riechen Klänge.




Dass dieses verrückte Sinnenspektakel Realität sein kann, ist erst seit einiger Zeit bekannt. Synästhesie heißt dieses Durcheinander von Sinnes- und Wahrnehmungseindrücken.

Carsten M. sitzt im halbdunklen Raum. Auf dem Kopf einen Helm mit Messfühlern, vor den Augen einen Monitor, der ihm abwechselnd Buchstaben, Zahlen und Muster zeigt. Im Versuchsraum der medizinischen Hochschule Hannover muss Carsten jedes Mal, wenn er ein Zeichen erkannt hat, auf einen Knopf drücken. Daraufhin speichert ein hochempfindlicher Apparat, ein sogenannter Elektronenzephalograph, was sich in Carstens Gehirn abspielt.

Durch ein Beobachtungsfenster beobachten Hinderk Emrich und Karen Trocha seine Hirnströme. Die beiden Neurologen versuchen herauszufinden, warum Carsten M. eine grüne Fläche mit Noppen sieht, wenn er ein Glas Milch trinkt oder alle Töne für ihn eine bestimmte Farbe haben.
Schon als Kind in der Schule galt er als sonderbar. Dass er Töne und Geräusche bildlich sehen kann, wurde als Spinnerei abgetan. Seine Eltern dachten, ihr Sohn hätte eine stark ausgeprägte Phantasie. Doch als Carsten M. anfing Dinge zu sehen, die ihrer Meinung nach nicht existierten, waren sie überfordert. Sie schickten ihn zur Therapie. Dort wusste man nicht so recht, wie man ihm helfen sollte. So wurde die Therapie abgebrochen und Carsten M. sprach mit Niemanden mehr über seine Wahrnehmungsempfindungen. Er selbst dachte lange Zeit, er sei verrückt. Heute weiß der 28-Jährige, dass seine Wahrnehmungsempfindungen keine Phantastereien sind, sondern dass er ein sogenannter Synästhetiker ist.

Diesen Menschen erscheint die Welt anders als den meisten von uns. Denn sie besitzen einen zusätzlichen Wahrnehmungsbereich. Dadurch erscheint ihnen die Welt bunter oder in verschiedensten Geschmäckern. Jeder Synästhetiker besitzt seine eigene Wahrnehmungswelt. Manche Synästhetiker fühlen Buchstaben, andere sehen Töne in Farben. Diese skurrilen Formen der Sinne sind jedoch nicht selten, vermuten Hinderk Emrich und Karen Trocha. Sie leiten an der Medizinischen Hochschule Hannover eine Studiengruppe für Synästhesie. Nach ihrer Auffassung sind sich viele Synästhetiker ihrer Veranlagung nicht bewusst. Sie schätzen etwa fünf Synästhetiker auf 10 000 Menschen.

Carsten M. war lange Zeit davon überzeugt, dass jeder die Welt so wahrnimmt wie er. Doch konnte kaum einer nachvollziehen, dass ihm sein Essen blau und samtig schmeckte. Niemand, den er kannte, hatte derartige Wahrnehmungen. Nicht selten wurde er als komischer Kauz oder Wichtigtuer bezeichnet. Als er merkte, dass viele ihn nicht verstanden, wurde ihm klar, dass irgend etwas nicht mit ihm stimmte. Er zog sich zurück und bekam Depressionen. Erst als er zufällig einen Bericht über das Phänomen der Synästhesie las, begriff er, was nicht mit ihm stimmte und dass er nicht allein war.

Auch der russische Maler Wassilly Kandinsky hatte synästhetische Wahrnehmungserscheinungen. Er beschreibt in seinen Kindheitserinnerungen, dass sich der Himmel von Moskau abends wie eine tolle Tuba verfärbte. Und er summte jeweils den Farbton, bevor er ihn auf die Palette mischte.
Die Wissenschaft schenkte dem Phänomen in der Kunst zunächst keine Beachtung. Der amerikanische Neurologe Richard Cytowic entwickelte in den achtziger Jahren zunächst ein Testsystem, um herauszufinden, ob es sich bei Synästhesie nur um Einbildung handelte. Hierzu ließ er eine Versuchsperson radioaktives Xenongas einatmen. So konnte er den Weg des Gases durch die Blutbahnen verfolgen. Dabei stellte Cytowic einen drastischen Rückgang des Stoffwechsels in der Gehirnregion fest, in der wir logisch und rational denken. Daraus schloss der Neurologe, dass Synästhesie eine Funktion in dem Teil des Gehirns ist, das für Gefühle und Erinnerungen zuständig ist.

Carsten M hatte das Gefühl, nie zur Ruhe zu kommen. Neben den gewöhnlichen Sinneseindrücken wirkten auf ihn eine Flut von Wahrnehmungen ein. Ständig erschienen zu Geräuschen Farbmuster vor seinem Auge. Carsten M. empfand diese Eindrücke, die er nicht kontrollieren konnte, als äußerst störend. Er konsultierte zahlreiche Ärzte, die ihn vergeblich mit Beruhigungsmitteln behandelten. Resigniert startete er einen Selbstversuch mit LSD. Da LSD synästhetische Erfahrungen hervorrufen kann, erhoffte sich Carsten M. eine umgekehrte Wirkung. Tatsächlich stellte sich ein ruhiges Gefühl ein. Carsten M. hatte den Eindruck, dass sich ihm die wirkliche Realität erstmals offenbarte. Mit dem Nachlassen der Wirkung kehrten jedoch die synästhetischen Wahrnehmungen wieder. Eine Therapie mit LSD oder LSD ähnlichen Wirkstoffen wurde abgelehnt.

Da das Phänomen der Synästhesie lange Zeit unerforscht blieb, waren viele Ärzte bei Behandlungswünschen ratlos. Erst seit den neunziger Jahren, in denen die Gehirnforschung einen Aufschwung erlebte, wurde auch der Synästhesie mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Inzwischen wird die Synästhesie auch nicht mehr als Krankheit angesehen. Es wird vermutet, dass sie eine Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit ist, die Kreativität fördert und außergewöhnliche Gedächtnisleistungen ermöglicht.

Der britische Neurologe Simon Baron-Cohen glaubt, dass im Gehirn von Synästhetikern eine "ungewöhnliche Verdrahtung" existiert. Aktuelle Studien zeigen, dass bei Synästhetikern die Sehrinde im Gehirn aktiv ist, wenn sie etwas hören. Einiges spricht dafür, dass Synästhesie genetische Ursachen hat. Eine Untersuchung an der Universität Cambridge zeigte, dass die Mehrzahl der Synästhetiker nahe Verwandte hatte, bei denen das Phänomen ebenfalls auftrat. Cytowic vermutet, dass die Synästhesie bei den frühen Menschen weitverbreitet war, und die Entwicklung unseres Gehirns zur Rationalität diese Fähigkeit zurückgedrängt habe.

Die meisten Synästhetiker müssen sich mit ihren zusätzlichen Sinneswahrnehmungen arrangieren. Manche sehen diese Art der Sinneswahrnehmung als eine Bereicherung ihres Lebens, da sie meinen, die Umwelt intensiver wahrzunehmen. Einigen Synästhetikern fällt das Lernen von Texten durch die dazugehörigen Farberscheinungen besonders leicht. Andere sind auffällig musikalisch oder künstlerisch begabt.
Die Untersuchungen in Hannover sind abgeschlossen. Als Ursache für das Durcheinander in der Wahrnehmungswelt von Carsten M. sieht Emrich die Vernetzung von Sinneszentren in der Hirnrinde, die Gefühlseindrücke verschmelzen lässt. Normalerweise sind diese Zentren getrennt.

Carsten M. kann sich nur schwer damit abfinden, dass ihn seine Wahrnehmungen das ganzes Leben lang begleiten werden, versucht sich ebenfalls in der Kunst. Durch die Malerei versucht er die ständige Eindrucksflut, die auf ihn einwirkt, abzubauen. Mit Erfolg, meint Carsten M.
Er bedauert, dass bisher noch keine Behandlungsmethoden entwickelt worden sind. Denn hätte er die Möglichkeit sich durch eine Therapie dieser Fähigkeit zu entledigen, so würde er keine Sekunde zögern.

Online-Tipp: http://www.sinnich.de/

Diese Seite vermittelt Synästhesie auf spielerische Art und Weise und
soll darueber hinaus zum "Sinnen" über den Sinn der Sinne im eigenen
alltäglichen Gebrauch verführen.

Diplomarbeit von Steffi Lindner


Public Affairs

Beitrag vom 07.04.2002

AVIVA-Redaktion